Michael Schwark ist eigentlich Lehrer und lebt seit sechs Jahren in Chile. Mit seiner chilenischen Frau und deren Familie betreibt er seit über drei Jahren die Bäckerei „Omi Gretchen“ in La Union, in der er alte ostpreussische Familienrezepte wieder aufleben läßt. In einem Interview erzählte er uns über seine Erfahrungen in Chile.
„Omi Gretchen“ ist ein unheimlich schöner, liebevoller Name. Wer war der Namensgeber und welche Backwaren kann man bei Euch kaufen?
Ostpreussische Rezepte in der Bäckerei Omi Gretchen in Chile: Schokoladentorte, Baisertorte und Buttercreme-Karamell-Torte
Dankeschön für die Blumen. Und ganz herzlichen Dank an Euch, dass ihr Euch die Zeit nehmt, uns kennenzulernen.
Zur Frage selbst, also Omi Gretchen ist tatsächlich meine Oma väterlicherseits, Margarete Schwark, in der Familie zeit meines Lebens immer liebevoll Omi Gretchen genannt. Sie lebt in Landsberg in Deutschland und erfreut sich Gott sei Dank allerbester Gesundheit.
Mit meiner Oma und auch meinem Opa, der leider schon früh verstorben ist, verbinde ich vor allem die Erinnerung an herrliche Buttercremetorten, leckere Weihnachtsplätzchen, Kuchen und Biscuitrollen – und gleichzeitig an ihre begehbare Speisekammer, die trotz striktem Abschliessen um die Feiertage herum vor uns Kindern nie wirklich sicher war.
Ehrlich gesagt, als meine chilenische Frau und ich uns vor dreieinhalb Jahren entschlossen, eine Bäckerei aufzumachen, war das Konzept für den Laden schneller entwickelt als ein Name gefunden. Wessen Idee genau es dann am Ende war, das kann ich heute gar nicht mehr mit Gewissheit sagen. Viele Leute haben uns anfangs abgeraten, weil sie meinten, niemand könne den Namen aussprechen in Chile. Heute ist aber sicher, dass die meisten schon können. In der Regel sagen die Leute hier aber nur „la Omi“ zu uns.
Traditionelle Backrezepte
Bäckerei Omi Gretchen im Zentrum von La Unión im Süden von Chile – Backstube und Verkaufsraum messen insgesamt nur 29 Quadratmeter
Unsere Backstube in der Omi ist runde 20 Quadratmeter gross, unser Verkaufsraum noch etwas kleiner. Die Bäckerei liegt im Zentrum der Stadt La Unión. Das ist die Hauptstadt der Gemeinde El Ranco in der Región de los Ríos, im Süden von Chile. Wir produzieren hier inzwischen nach drei Jahren 192 verschiedene Backwaren.
Ein Großteil unserer Produktpalette wird tagesfrisch verkauft. Der durchschnittliche Produktlebenszyklus beträgt in etwa anderthalb Stunden, wobei aber vieles schon direkt aus dem Ofen vom Kunden aufgekauft wird. Wir stellen Berliner und Brezeln her, 21 traditionelle Tortenrezepte, Biscuit, backen an die 40 verschiedene Kuchen und verschiedene traditionelle Typen Kekse – sei es zu Weihnachten Vanille-Kipferl oder unsere im Holzofen gebackene Kaffeplätzchen-Mischung.
Dazu kommen je nach Saison verschiedene Spezialitäten, zum Beispiel unsere Kastanienrolle im Winter, Pflaumen- und Apfelstrudel, Rastenburger Buchteln und vieles mehr. Auch Süssigkeiten wie Pralinen und Fruchtgelee gehören zu unserem Sortiment. Einige unserer spezielleren Produkte, denke ich, kann man heute kaum noch irgendwo käuflich erwerben.
Zur Saison der Kastanienernte in La Unión, Chile – Kastanienrolle mit Marzipan-Schokoladenfüllung
Du bist eigentlich Deutsch- und Englischlehrer. Wie wurde aus Dir der chilenische Bäcker?
Also, ich bin noch immer Lehrer, obwohl ich heute hier in Chile nur noch Deutsch unterrichte. Mittlerweile läuft die Bäckerei ja schon über drei Jahre. Wir sind bis dato ein reiner Familienbetrieb geblieben, von anfangs einem auf inzwischen 6 Angestellte gewachsen.
Bäcker bin ich auch heute so gar nicht. Mit der Zeit haben sich eher ganz klare Aufgabengebiete herauskristallisiert. Logisch, in Stosszeiten muss trotzdem jeder überall mit anpacken. Ich kümmere mich aber im Gros um die Bücher, unser Marketing und die Produktentwicklung. Produktentwicklung heisst ganz konkret, die alten Kochbücher unserer Familien aus Deutschland und Chile zu wälzen, alte Rezepte manchmal erst einmal entziffern zu müssen, mit meiner Schwiegermutter nach den Ladenzeiten viel zu experimentieren, bis dann schliesslich ein neues marktreifes Produkt entstanden ist. Das probieren wir im Verkauf erst einmal aus.
Ganz so einfach ist das oft gar nicht. Unsere Rezepte haben nämlich allesamt so manches Jährchen auf dem Buckel. Die ältesten mindestens 120 Jahre, wie zum Beispiel unser Berliner. Das ist ein richtiger traditioneller ostpreussischer Kreppel. Bevor solche Produkte überhaupt marktreif sind, ist viel Arbeit notwendig. Und man verbessert sie natürlich auch noch mit der Zeit.
Ein Backrezept ist mehr als Mengenangaben und Vorgangsbeschreibung
Ostpreussischer Berliner, genannt Kreppel, gefüllt mit Quittenmus
Die alten Rezepte der Familienbäckereien machen nur sehr selten Angaben zu den Quantitäten der entsprechenden Zutaten. Da ist noch Handwerk gefragt. Auch Kenntnisse der entsprechenden Ruhezeiten der Teigmassen zum Beispiel, wie der Teig weiterverarbeitet wird bis hin zu den vielen Techniken, vom Malen mit Schokolade oder Marzipan, der Herstellung von Aromen aus frischen Früchten und vielen anderen mehr. Wir machen auch so gut wie nichts mit Maschinen, alles läuft von Hand. Neben der Arbeit muss eigentlich immer noch gelernt, probiert werden. Ein traditioneller Handwerksbetrieb kommt ohne permanente Weiterbildung nicht aus. Früher war das auch nicht anders, denke ich. Deshalb haben wir in Deutschland ja immer noch die schöne Tradition der Walz und die regionale Vielfalt unterschiedlicher Backwaren zum Beispiel.
Heute herrscht leider oft der Irrtum vor, ein Rezept sei nicht mehr als einige Mengenangaben und eine reine Vorgangsbeschreibung. So geht das natürlich nicht. Oft müssen wir auch einige Zutaten mit lokalen Alternativen ersetzen. Dann setze ich mich ins Auto und fahre die umliegenden Bauern und Märkte in unserer Región de los Ríos ab. Denn wir arbeiten ausschließlich mit frischen, natürlichen und zum Großteil auch organischen Erzeugnissen. So habe ich in den letzten Jahren auch mein Spanisch auf ein akzeptables Niveau gebracht und viel über Menschen und Land gelernt. Das würde ich heute nicht missen wollen. Noch vor 6 Jahren in Deutschland konnte ich eine Erdbeerpflanze nicht von einer Bananenstaude unterscheiden. Insofern lerne ich immer wieder etwas dazu. Abgesehen davon, sind die Chilenen ein großartiges und freundliches Volk. Egal wo man auf dem Land einkehrt, überall muss man gleich versuchen und sitzt mit der Familie am Tisch. Es wird gekocht und gebacken, was das Zeug hält. Mit dem, das aus der Erde wächst und seit annodazumal auf dem Tisch steht. So habe ich auch meine Familie hier in Chile kennengelernt. So richtig hat sich mein Faible für das Backen erst in Chile entfaltet. Dafür bin ich enorm dankbar.
Aus dem Regenwald bei Valdivia und seiner unmittelbaren Umgebung kommt der Honig, der in vielen Produkten der chilenischen Bäckerei einen großen Teil der Zuckermenge ersetzt
Die Bäckerei – Arbeit in der Familie
In der Bäckerei aber schmeißen meine Schwiegermutter und einer meiner Schwager eigentlich den kompletten Backbetrieb von Montag morgens bis Samstag am Abend. Meine Frau ist verantwortlich für die Dekoration der Produkte, von den Torten bis hin zu den Keksen und Schokoladen. Ein anderer Schwager und eine Tante teilen sich den kompletten Verkauf und die Logistik. Seit etwas mehr als einem Jahr beliefern wir auch einige wenige Geschäfte in ganz Chile mit unseren Produkten. Langeweile kommt selten auf. Arbeit in der Familie hat etwas sehr Schönes. Ich habe im ersten Jahr noch viel im Verkauf mitgeholfen, aber heute ist das so leider fast gar nicht mehr möglich, weil andere Aufgabenbereiche viel mehr Zeit schlucken.
Ein Leben ohne Schule könnte ich mir trotzdem nicht vorstellen. Ich liebe Sprachen und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Ich arbeite an einer sehr kleinen Schule, in der noch eine sehr liebevolle Arbeit mit den Kindern an der Tagesordnung steht. Die Schulgemeinschaft hat mich sehr herzlich aufgenommen vor 5 Jahren und ich bemühe mich seitdem, meinen bescheidenen Teil beizutragen. Manchmal verzahnen sich sogar beide Bereiche, und das ist gut so. Alte Handwerke, gesunde Ernährung, die Produktion von Lebensmitteln, das wird alles langsam wieder wichtiger heute. Man sollte mit Kindern darüber sprechen. Ich bin oft mit Schülern in der Bäckerei oder rede mit ihnen über die Schwierigkeiten und Notwendigkeiten, wenn man unternimmt. Das gehört dazu. Ich bin heute der Meinung, dass uns das wichtigste Fach an Schulen noch fehlt – Finanzerziehung, auch im Sinne von Wertschöpfungsketten begreifen, mit Geld umgehen lernen, Handwerk von Innen kennenlernen. Das hat eine immense Bedeutung für das Grosswerden eines jeden Kindes. Das ist wichtig für jeden, auch den, der nach der Schule zur Universität geht.
Michael Schwark (links) mit seiner Frau Juana (2.v.rechts) und Besuch vor der Bäckerei, nach dem ersten Jahr Omi Gretchen im Januar 2015
Leben im Ausland ist oft exotisch und viele wünschen sich ein solches Leben. Was fasziniert Dich in Chile? Was möchtest Du nie wieder eintauschen und was fehlt Dir von Deinem deutschen Leben?
Was mir am Meisten fehlt, sind meine Eltern. Es wäre schön, beide viel näher bei uns zu haben. Mein Vater hat aber viel Arbeit, ist selbstständig mit einem Bauunternehmen, meine Mutter kann dialysebedingt keine weiten Strecken mehr reisen. Das Schuljahr in Chile ist relativ lang und die Bäckerei dazu noch ein sehr anstrengendes und zeitintensives Gewerbe. Arbeitstage zwischen 14 und 16 Stunden sind mehr Regel als Ausnahme.
Ich würde mir wünschen, dass in absehbarer Zeit die Möglichkeit bestünde, mehr nach Deutschland zu reisen, auch gerade mit meiner Frau. Abgesehen davon fehlt mir, wenn ich ehrlich bin, nichts. Viele meiner Freunde haben uns bereits besucht und die, die noch fehlen, kommen auch bald. Meine Frau und ich haben die Hälfte des Jahres Besuch und das stört uns nicht. Im Gegenteil, oft arbeiten die Leute dann selbst ein paar Wochen in der Bäckerei mit. Wir hatten bereits Österreicher, Tschechen, Schweizer, Spanier, Deutsche, Ungarn, Litauer und Iren hier. Oft entstehen so auch gute Ideen für die Bäckerei, nicht nur in der Küche selbst, auch für den Service oder das Marketing. Wir sind diesen Menschen enorm dankbar, zu allen gibt es nach wie vor guten Kontakt. Nicht wenige kommen wieder und es entwickeln sich Freundschaften fürs Leben. Essen und Handwerk verbindet halt Menschen. Das war immer so und wird immer so bleiben.
Was ich aber schätzen gelernt habe an Deutschland sind die vielen Ideen und die viele Arbeit dort, unsere historischen Sehenswürdigkeiten zu erhalten und in den Kulturbetrieb der Städte bis hin zu den kleinsten Dörfern einzubinden. In Chile sind wir noch nicht so weit. Obwohl es langsam kleine Fortschritte gibt. Ich muss mich auch immer wieder kontrollieren und auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Wer in der Ferne leben möchte, der sollte meiner Meinung nach zuallererst auch die örtlichen Gepflogenheiten kennenlernen, akzeptieren und sich ihnen unterordnen. Das heisst natürlich trotzdem nicht, dass man nicht konstruktiv kritisieren sollte, ganz im Gegenteil. Aber allzuoft sind die Übergänge fliessend, und dann muss man sich einen Moment hinsetzen und auf den Teppich zurückkommen. Das gehört einfach dazu. Ich habe grosses Glück, denn meine Frau hilft mir dabei. Das ist ein Prozess und passiert nicht von heute auf morgen. Manchmal wollen die Leute zuviel in kurzer Zeit und sind dann enttäuscht. Man muss immer zuerst das Positive sehen. Die perfekte Integration in der ersten Generation ist eine Illusion. Ich erinnere mich da immer an Herders Schilderungen seiner Reisen entlang der Wolga und seiner Besuche bei den Wolgadeutschen. Es hat sich 250 Jahre daran nichts geändert. Aber mit viel Liebe und Kraft kann man so manchen schweren Moment überwinden und zum Guten wenden.
Was ich an Südchile und La Unión liebe, ist, dass der Mensch nie zur Ruhe kommt. Man ist immer am Arbeiten, es gibt immer viel zu tun. Es ist zum Teil sicherlich das Leben unserer Grosseltern und Urgrosseltern. Es ist nicht immer einfach, oft auch schwer. Aber harte Arbeit wird belohnt, nicht immer zuerst materiell, aber mit kleinen Gesten. Unsere Bäckerei zum Beispiel ist langsam immer populärer geworden. Unsere Kunden sind sehr liebenswerte Menschen und wir bekommen sehr viel positives Feedback. Die frische Luft und das weite Land hier tun ihr Übriges. Chile hat eine fantastische Natur. In einer halben Stunde ist man im Nationalpark trekken oder sitzt an einer unberührten Fluss- und Seenlandschaft. Die Luft ist ganz anders hier. Gemüse und Obst schmecken natürlich und saftig. Das Essen ist fantastisch. Biosiegel braucht es nicht, Fleisch kauft man von Tieren, die auf der Weide stehen. Ich glaube heute ganz ehrlich daran, dass das Leben in Chile trotz doppelter Arbeit viel gesünder ist als in Mitteleuropa. Arbeiten gegen die Uhr ist nicht unbedingt ein erfülltes Arbeiten. Ich sage aber auch nicht, das eine oder andere wäre nur in Deutschland oder Chile möglich.
Gibt es eine deutsche Community in Chile, die in eurer Bäckerei einkaufen? Habt Ihr chilenische Kunden oder ist es schwierig die lokale Community zu überzeugen?
Unsere Idee mit Omi Gretchen war von Anfang an die einer tradionellen altdeutschen und südchilenischen Bäckerei. Wir wollen die Rezepte unserer Familien wiederbeleben und pflegen. Meine Familie kommt aus der Gegend von Rastenburg, früher Ostpreussen, heute Polen, und die Familie meiner Frau kommt aus La Unión und Umgebung. Omi Gretchen heißt für uns einfach nur, natürliche und leckere Backwaren für die ganze Familie zu backen.
Omi Gretchen zaubert ein Lächeln ins Gesicht der Kunden
Dreistöckige, herzförmige Hochzeitstorte mit handgeformten Zuckerblumen, mit Marzipan dekorierte Schokoladeneier und ein mit Schokolade und Zuckerguss dekoriertes Fachwerkhaus aus Honigkeks bei Omi Gretchen
Unsere Kunden kommen nur zu einem Drittel aus La Unión selbst, die Mehrheit besucht uns aus Valdivia, Osorno, Pucon, Temuco und den umliegenden kleinen Gemeinden auf dem Land. Wir reden da auch von Städten, die zwischen 50 und 250 Kilometern entfernt liegen. Das beeindruckt uns doch, wie diese Leute unsere Produkte schätzen und mit einem Lächeln in die Verkaufsstube kommen. Das ist unbezahlbar. Das ist auch der wahre Bäckerlohn. Natürlich wächst ein Geschäft langsam und mit Bedacht. Wir haben es nie als schwierig oder notwendig empfunden, Kunden zu überzeugen. Der Geschmack der Produkte und ihre Bekömmlichkeit waren immer unsere grossen Stärken und das spiegelt sich heute auch in unserem Kundenstamm wider. Man muss so einer Sache aber viel Zeit geben. Manchmal kann ich mir selbst gar nicht vorstellen, dass wir 2014 einmal mit einem oder zwei Kuchen täglich angefangen haben. Heute müssen wir rackern, am Vormittag überhaupt die Vitrine voll zu kriegen, weil die ersten Kunden um 10 Uhr schon die kompletten Ofenladungen wegkaufen. Es gibt gute Zeiten, es gibt schwierigere Zeiten. Aber wer bei der ersten Komplikation einbricht, der kann kein Unternehmer werden.
Und obwohl unsere Produkte streng natürlich sind – wir also keine Konservierungsmittel und nur organische Farbstoffe verwenden, sogar unsere Aromen selbst aus frischen Früchten herstellen, dazu tagesfrisch verkaufen, wollen wir mit unserer Bäckerei nicht auf den aktuellen hochpreisigen Gourmet-Trend in Chile aufspringen. Wir wollen eine Bäckerei sein für den guten Geschmack zum fairen Preis. Ich sage dazu immer ganz gern Dorfbäckerei, oder Familienbäckerei.
Trotzdem: natürlich sind unsere Produkte oft teurer als der Durchschnitt in Chile. Aber das rechtfertigt die Qualität. Preiswert ist eben nicht billig. Auf die Geiz ist geil-Mentalität darf man sich auf keinen Fall einlassen als traditioneller Bäcker, in Deutschland wie in Chile nicht. Dann hat man verloren, bevor man angefangen hat. Und wie immer und überall im Leben gilt: man kann und sollte es auch nicht jedem Recht machen. Jeder hat heute die Auswahl zwischen industrialisierten Bäckereien, Supermärkten und dem Handwerksbäcker.
Dass wir auf dem richtigen Weg liegen, zeigt, dass wir ein sehr gemischtes und beständiges Klientel an Kunden haben. Wir sind kein elitäres Geschäft, sondern ein spezielles. Für mich sind das zwei absolut verschiedene Sachen.
Was sind die Herausforderungen als deutscher Bäcker in Chile?
Mir fallen ehrlich gesagt jetzt gar keine ein, die es in Deutschland so nicht auch gäbe und immer gegeben hätte. Harte Arbeitszeiten, frühes Aufstehen, vor allem auch fast immer dann arbeiten, wenn andere feiern – das ist das Kreuz, das jeder Bäcker zu tragen hat. Meine Familie waren Bäcker bis zur Generation meiner Urgroßeltern. Wenn wir am Weihnachtstisch sassen, dann fehlten bis zum späten Abend am Tisch immer noch meine Urgroßmutter und mein Urgroßvater. Denn der Laden musste gefegt, Bleche und Öfen geputzt werden. Dieser Rhytmus bestimmt auch unser Leben im Süden von Chile hier in La Unión. Damals als Kind hat man das nur schwer verstanden, aber das Leben holt einen halt oft wieder ein.
Bäckereien verkaufen ein Erlebnis
Natürlich muss man, wenn man auch Backwaren anbietet, die in Chile so nicht bekannt sind, Geduld haben. Aber ein Geschäft baut man immer langsam und mit viel Bedacht auf. Qualität ist bei Omi Gretchen die oberste Prämisse. Das hat sich mittel- und langfristig bezahlt gemacht. Wir haben einen kleinen, unheimlich treuen Kundenstamm. Ich schätze heute, dass rund 90% unserer Erstkäufer Stammkunden werden. Die meisten Kunden haben auch ihr persönliches Lieblingsprodukt. Sei es der tägliche Berliner, das Kartoffelbrot für die Familie am Wochenende, die Geburtstagstorten für die Kinder und Ehefrau, der Kuchen für den Frauenabend oder der Korb voll frischer Brezeln für die Fussballrunde. Davon letztendlich lebt jeder Handwerksbäcker, auch Omi Gretchen. Du verkaufst aber als traditioneller Bäcker trotz allem heute nicht nur ein qualitativ hochwertiges Produkt, sondern auch ein Erlebnis, und einen individuellen Geschmack, mit dem kein Supermarkt und keine industrielle Bäckerei mithalten kann. Das heisst, dass wir Handwerksbäcker heute dazulernen müssen, vor allem in den Bereichen Marketing, Verkauf und Vertrieb.
Uns hat unter anderem sehr geholfen, die Bestellprozesse zu optimieren. Auf unserer Internetseite kann sich jeder seine eigene Torte mit wenigen Klicks zusammenstellen und für sein Wunschdatum vorbestellen. Für den Kunden ist das einfach praktisch, uns hilft es bei der Logistik, denn Torten backen wir nur auf Bestellung. Auch das Thema Diabetes und Lebensmittelallergien ist heute ein grosses Thema. Wir backen daher einige Rezepte auch für Diabetiker. Generell aber halte ich nicht so viel von den Trends, zum Beispiel von speziellen Mehlen und gluten-frei zu backen. Unsere Erfahrung im Laden ist eine andere. Viele Kunden, die zu uns kommen mit Allergien und Unverträglichkeiten, werden unsere besten Kunden und bestätigen, dass unsere Produkte sehr gut bekömmlich sind.
Die grösste Herausforderung eines Bäckers ist am Ende die, dass jede Bäckerei ihren eigenen individuellen Stil entwickelt. Der muss sich im Geschmack und in der Dekoration, und ganz unbedingt auch im Service widerspiegeln. Wir haben von Anfang an sehr darauf geachtet, dass Torten, Kuchen, Süssigkeiten, Bedienung im Laden einfach immer Omi Gretchen sind. Ich glaube, das ist uns sehr gut gelungen. Aber am Ende steht man doch immer wieder am Anfang. Jeder, der sein Geschäft wirklich liebt, wird dieses Gefühl so auch kennen. Egal, ob man Fischbrötchen verkauft oder eben eine Bäckerei betreibt, und ganz egal, ob in Deutschland oder Chile.
Deine Tipps für Chile-Reisende? Wo sollte man unbedingt mal hin, was muss unbedingt auf der „Must do“ Liste stehen?
Ein Haus deutscher Einwanderer in La Unión, Region de los Ríos – Eine der vielen historischen Spuren in unserer Region de los Ríos
Ganz klar, natürlich La Unión und Omi Gretchen! Scherz beiseite! Aber bis heute konzentriert sich der Tourismus in Chile immer noch auf einige wenige Städte und Ballungsräume. Die meisten Touristen kommen nach San Pedro im Norden, Viña und Valparaiso bei der Hauptstadt Santiago in der Zentralregion, Pucon und Villarrica im kleinen Süden oder Puerto Varas und Frutillar bei Puerto Montt im Süden. Aber meiner Einschätzung nach sind nicht nur diese Städte repräsentativ für das genuine Chile.
Der kleine Süden, das ist auch unsere Region, die Region der Flüsse, Región de los Ríos genannt, ist gerade deswegen so schön für Familien, Feinschmecker und Geschichtsinteressierte, weil er relativ ungeschminkt das Leben der letzten zwei Jahrhunderte auf dem chilenischen Land zeigt. In La Unión zum Beispiel haben wir die älteste noch funktionierende Siemens-Turbine der Welt und eine historische Mühle. Es gibt eine Vielzahl architektonischer Spuren der deutschen und französischen Kolonisation des Südens Chiles. In der Strasse, in der wir leben, druckt der örtliche Copyshop noch mit einer Heidelberger Druckmaschine aus dem Jahr 1893.
Puerto Trumao bei La Unión – Auf dem Weg zum Nationalpark Reserva Costera Valdiviana fährt man am alten Hafen von Trumao vorbei, an dessen Ufern man eine alte französische Kapelle besichtigen kann – Etwas weiter an der selben Strasse liegt auch die tausendjährige Lärche, der älteste Baum Südamerikas
La Unión selbst ist ein kleiner Ort, in dem Colun, eine Fabrik für Milchprodukte, der grösste Arbeitgeber ist. Die Qualität der lokalen Früchte und des Gemüses ist phänomenal und mit etwas Suche entdeckt man gastronomische Angebote, die nicht europäisiert sind und die lokale Küche mit viel Liebe zur Tradition widerspiegeln. Das alles und noch viel mehr ist sicherlich vor allem auch deswegen interessant, weil wir nur 5 Minuten von der einzigen grossen Autobahn Ruta 5 entfernt liegen. Die führt vom Norden in den Süden von Chile. Hier vorbeizufahren und La Unión, den herrlichen Ranco-See, unsere Nachbargemeinden Rio Bueno, Puerto Nuevo, Lago Ranco und Futrono wortwörtlich links liegen zu lassen – das ist definitiv keine gute Idee und passiert leider noch viel zu oft, meiner bescheidenen Meinung nach.
Wir sind direkt an einem der schönsten Nationalparks Chiles Alerce Costero gelegen, inklusive dem ältesten Baum Südamerikas, der tausendjährigen Lärche. Auf den umliegenden Flüssen kann man fliegenfischen und Kajak fahren. Nicht weit weg bei Osorno liegt mit Antillanca ein herrliches Skigebiet. In circa 2 Stunden ist man mit dem Auto oder Bus in Argentinien auf der herrlichen Route der sieben Seen, Ruta de los siete lagos. Bariloche, die argentinische Schweiz, wie manche sie nennen, ist davon auch nicht mehr so weit entfernt.
Ich bin allerdings insgesamt guter Dinge, denn es kommen Jahr für Jahr merkbar mehr Touristen von ausserhalb nach La Unión. In der Bäckerei zum Beispiel haben wir gerade auch im Sommer von Dezember bis März viel Besuch von Deutschen, Franzosen, Engländern, Holländern, Belgiern und anderen Nationalitäten. Das wird spürbar mehr, denn der Süden von Chile ist ein herrlicher Ort, um Urlaub zu machen. Es wird sich zeigen, inwieweit Lokalpolitik und lokale Unternehmer hier zusammenarbeiten werden, um dieses Potential auch zu nutzen.
Eine lustige Anekdote aus Deinem Leben als chilenischer Bäcker? Es passieren ja oft die ungewöhnlichsten Dinge, mit denen man so gar nicht gerechnet hat. Was war das bei Euch?
Da gibt es so viele, dass ich gar nicht priorisieren kann. Einmal stand, hier am Ende der Welt, ein Kunde vor mir, der unseren Berliner lobte und sich dann als Afghane vorstellte, der einige Jahre in Deutschland gelebt hatte. Damit rechnet man doch nicht! Ein anderes Mal, erinnere ich mich, fuhr eine älteres Ehepaar vor, das 50 Kreppel verlangte. Wie sich herausstellte, waren beide Kinder von nach Chile ausgewanderten Ostpreussen, aus der Nähe von Rastenburg, aus dem Dorf, aus dem auch meine Grosseltern stammten. Unglaublich!
Eine grosse Überraschung war auch, als mein Schwager jüngst bei dem Bäckereiwettbewerb der Biermarke Kunstmann aus Valdivia mit dem Rezept unserer Rastenburger Buchteln aus dem Stand den zweiten Platz belegte. Wir haben auch schon Hochzeitstorten für einige Prominente gebacken. Das ist sicherlich auch immer ein Erlebnis, aber Namedropping ist nicht unsere Sache. Omi Gretchen soll zuerst mit Qualität und Liebe für das Bäckerhandwerk überzeugen.
In einer so kleinen Bäckerei passieren oft die absonderlichsten Zufälle und Begebenheiten. Wir sind immer immens dankbar für nette Gespräche, das macht oft lange Tage kürzer und zaubert ein Lächeln auf müde Gesichter.
Wir empfehlen unserer deutschen Bäckerei Community einen Besuch bei „Omi Gretchen“. Was müssen Deine Gäste & Kunden unbedingt einmal probiert haben? Was ist der „Renner“?
Unseren Berliner muss man einfach versucht haben. Er wird jeden Tag frisch hergestellt, am Nachmitag gegen um drei kommt er raus und gegen um 6 geht der letzte dann über den Ladentisch. Auch unsere typischen ostpreussischen Tortenböden wie die Mohntorten, Schokoladentorten, die Baisertorte oder die Himmelstorte sind einen Bissen wert.
Himmelstorte – Ein altes Rezept, und die meistverkaufte Torte in Omi Gretchen
Abgesehen davon gibt es täglich eine grosse Auswahl von frischen Kuchen, mit frischen Früchten der Saison und aus unserer Region. Hier kann man immer bedenkenlos zugreifen. Zu meiner privaten Mission habe ich es über die Jahre gemacht, den in Chile vom Aussterben bedrohten Zitronenkuchen zu retten. Wer mit den landauf landab erhältlichen aus Fertigbackmischung hergestellten Varianten nicht glücklich geworden ist, der ist mit einem Stück pie de limón exzellent beraten. Neben 12 anderen frischen Zutaten stecken 8 ganze Zitronen in einem dieser saftigen Burschen.
Ich selbst allerdings bin ein unheimlich grosser Fan der traditionellen südchilenischen Bäckerei geworden – unseren Besuchern aus allen Herren Länder empfehle ich immer zuerst auch einen Morocha, die Torta de Hoja, den Honigkeks, einen Brombeer-Streusel-Kuchen oder unsere irische Möhrentorte mit chilenischen organischen Mohrrüben aus dem Garten meines guten Freundes Diego. Bei letzterer handelt es sich um ein Familienrezept von Paula Phelan, einer Irländerin, die ein Jahr lang in unserer Küche gearbeitet hat, bevor sie vor Kurzem nach Frankreich ausgewandert ist. Viele unserer Besucher lassen Rezepte in der Omi: unsere Rotweintorten zum Beispiel kommen aus dem Süden Spaniens, unsere Vainillekipferl von unserem guten Freund Roy aus Chemnitz in Sachsen.
Einige von vielen traditionellen Backwaren der chilenischen Küche – Morochas (Kekse mit Milchcremefüllung), Honigkekse und Torta de Hoja (Scheibentorte mit Sahne und Mosqueta, dem Sirup der Weinrose, gefüllt)
Zu den kleinen Besonderheiten bei Omi Gretchen zählen sicherlich ebenfalls die süßen Traditionen, die wir noch pflegen. Es gibt unter vielem anderen mehr zum Beispiel mit Liebe und Schokolade bemalte Honigkuchenhäuser, mit hausgemachtem Marzipan verzierte Ostereier, Tee-Kekse, mit lokalen Motiven bemalte Schokoladentafeln und Pralinen mit natürlichen Fruchtaromen. Die Aromen extrahieren wir in der Bäckerei aus frischen Früchten.
Ganz besonders wichtig für uns sind auch unsere traditionellen Hochzeitstorten. Wer eine ausgefallene Location für seine Hochzeit sucht, ist mit dem Süden von Chile sehr gut beraten. Und eine unserer Torten ist dann eben noch das i-Tüpfelchen oben drauf. Vor den Feiertagen empfehle ich typische ausserhalb von Chile gänzlich unbekannte traditionelle Süssigkeiten, wie den Alfajor mit Chancaca. Das ist eine Art Keks mit einer Frucht-Nuss-Paste als Füllung – etwas ganz Besonderes.
Kulinarsiche Zeitreise
Omi Gretchen ist definitiv immer einen Besuch wert, denke ich. Für mich ist die Bäckerei eine richtige kleine süsse Schatzkiste und eine kulinarische Zeitreise zurück in unsere Kindheit. Es geht nicht zuerst um den Konsum, sondern auch das Anschauen, Riechen und die Beratung, allein das macht auch einfach Spass. Ganz besonders für Kinder ist das natürlich oft der Himmel auf Erden. Und mancher ältere Semester fühlt sich an die eigene Kindheit erinnert, bei Mutter oder Oma zu Hause.
Wenn Du noch mal auswandern würdest, in welches Land würde es Dich ziehen? Und in welchem Land wärst Du gerne als nächstes Bäcker?
Das ist jetzt die schwierigste Frage. Wenn ich ehrlich bin, würde ich den Süden von Chile heute wahrscheinlich immer vorziehen. Ganz besonders entscheidend ist dabei natürlich, dass meine Frau aus dem Ort kommt. Ihr Herz hängt an ihrer Heimat und ihrer Familie, ganz besonders an ihrer Mutter. Und ich habe La Unión definitiv auch von Jahr zu Jahr mehr ins Herz geschlossen.
Trotzdem, ich habe im Leben gelernt, dass man nie nie sagen soll. Sollte es dazu kommen, werden wir überall glücklich werden und backen. Wäre ich nicht in Chile gelandet, hätte es mich wahrscheinlich nach Australien verschlagen. Das war mit Ende 20 mein grosser Wunsch, diesen Kontinent auch noch kennenzulernen. Aber irgendwann einmal kann ein wohlverdienter Urlaub Abhilfe schaffen. Ein Traum wäre sicherlich auch noch, einmal ein paar Monate in einer Wiener Bäckerei zu arbeiten. Wenn ich 20 Jahre jünger wäre, wäre ich schon längst dort. Aber man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Wichtig ist immer, nach vorne zu schauen.
Brombeer-Streuselkuchen, Nusskuchen, Erdbeerkuchen und Kirsch-Guave-Kuchen – Omi Gretchen wechselt das Angebot seiner Kuchen je nach Saison der unterschiedlichen Früchte